Diskussion zur gegenwärtigen Weltlage,
angesichts des Kriegs in der Ukraine,
in Gedanken an dialogische Prinzipien,
denen wir uns verpflichtet fühlen.
Vorschläge zum ordnen:
- ich sitze sicher und entspannt beim Schreiben. Gerne möchte ich das erhalten; bin als Kind in den Krieg hinein-geboren. Meine Körperzellen erzittern bei den Nachrichten und den Bildern des Krieges vor unseren Toren.
Atmen, sich beruhigen, denken. - Andere Menschen in unserem Umfeld versuchen Angst und Ohnmacht mit Macht zu bannen.
Waffen liefern.Macht generieren. - Waffen liefern. Mit welchen Zielen?
aus ‚unserer (D) Sicht?
a) Angst reduzieren, handlungsfähig erscheinen
b) Solidarität mit den Be- und Getroffenen
c) das ‚Böse‘ besiegen (Seeßlen[1]) - Waffen an die Fronten; Ziele aus Sicht der Angegriffenen.
a) Abwehr der der realen Bedrohung, überleben.
b) sich selbst, die Familie, die Stadt und das Land verteidigen
c) den Aggressor zurückschlagen
d) den Staat Ukraine sichern und stärken
e) Sieg und Triumph über den Gegner und das ‚Böse‘ - Die unterschiedlichen Lebenslagen der Betroffenen vor Ort und der etwas weiter Entfernten bedeuten verschiedene Sichtweisen und Interessenlagen.
Die unter Lebensgefahr stehenden Menschen haben alles Recht der Welt sich zu verteidigen. Die ‚bystander‘, diejenigen, die in der Nähe sind, die mitleiden und selber Angst haben, müssen ihre Lage selbständig analysieren. - Wir, BRD-Bürger und Westliche, sind im Bündnis mit der NATO. Die noch nicht überwundene Spaltung der Welt in miteinander konkurrierende imperiale Mächte, die auf ihre jeweilige Vorherrschaft pochen, hält uns in Atem. Fragen der Bewaffnung, der wirtschaftlichen Boykottierungen und Sicherung von Lieferketten rangieren auf Weltniveau.
Wir (D) dürfen und müssen das in Erwägung ziehen. - Die Fehden in der Öffentlichkeit sind begrüßenswerte Debatten der demokratischen Zivilgesellschaft. Die Wellen in den Medien spiegeln diese Debatten, sind aber auch beeinflusst von machtvollen Interessen, die ihre Herkunft nicht immer offenlegen.
- Allerdings ist zu beachten, dass die Regeln der Debatten in der Öffentlichkeit nicht in der Hand derer liegen, die sich mit Ideen und Meinungen beteiligen.
Die Methoden und Techniken der medialen Beeinflussung sind weit entwickelt. Der aus der SpieleSzene stammende Begriff ‚Immersion‘ wird systematisch in der Gestaltung der öffentlichen Meinung eingesetzt. Immersion beschreibt das Eintauchen in die Inhalte eines Mediums. Zum Beispiel erleben wir das beim Lesen eines spannenden Buches. Diesen Zustand, in dem der ‚Nutzer‘ ein tiefes Engagement empfindet und hoch involviert ist, wird ausgiebig benutzt, um bestimmte Interessenlagen anderer zu vermitteln und als Eigenes akzeptieren zu lassen. Die Berichterstattung über die Ereignisse in der Ukraine und die medialen Präsentationen führender Politiker generieren eine Art Sog, die Interessen der Menschen und Kräfte vor Ort, in der Ukraine, als unsere eigenen, der bystander, zu empfinden. Die unterschiedlichen Perspektiven werden in-eins gebracht. - In Gedanken an dialogische Prinzipien, denen wir uns verpflichtet fühlen und der Konfrontation mit diversen kursierenden Kriegszielen sollten wir das Projekt des Friedens nicht aus den Augen verlieren. Es muss weiterhin unser Ziel sein. Paulo Freire gibt uns wichtige Impulse, Frieden nicht als einen idealen Zustand zu phantasieren, sondern stetig Lebensumstände aktiv zu gestalten, mit sozialer Gerechtigkeit für alle Menschen, weltweit.
In seiner Rede anlässlich der Verleihung des „UNESCO Preises für Friedenserziehung 1986“ erinnert Freire zunächst an die vielen Mitstreiter und Mitstreiterinnen, die sein bisheriges Lebenswerk beeinflussten, ermöglichten, ja, seine Erzieher waren. Von diesen vielen namenlosen, ausgebeuteten und nicht privilegierten Menschen lernte er, dass Frieden die Grundlage von allem Leben ist, unabdingbar, aber immer wieder eine Errungenschaft, für die gerungen werden muss. Frieden ist etwas Aufzubauendes, es ist ein Lebensumfeld für dessen Herstellung gekämpft werden muss. Frieden wird gemacht. Frieden ist eine Aktivität, kein Zustand. Es ist die niemals endende Arbeit an der Herstellung von mehr sozialer Gerechtigkeit. Deswegen sieht sich Freire selbst nicht als Vertreter der „so – genannten Friedenserziehung“ (Freire 1988: 27[2]). Sie bringe kein Licht in eine Welt voller Ungerechtigkeit. Im Gegenteil sie trage dazu bei, diese Welt im Verborgenen zu lassen mit dem Effekt, dass sie die an dieser Welt, an der jeweiligen Unterdrückungssituation Leidenden noch stärker unterdrückt.
Also hören wir zu. Hören wir den Menschen zu, die bereits bei uns Aufnahme fanden, hören wir den Überlebenden des Massakers in Boutscha zu. Hören wir zu, wenn die demokratisch gewählte Führung und die Menschen mit uns sprechen möchten. Sie alle könnten unsere Mit-Erzieher im Dialog um Frieden werden. Um den Frieden in der Ukraine muss gerungen werden. Es könnte ein gemeinsames Ringen und eine wirkliche Zeitenwende sein.
13.05.2022
Heinz-Peter Gerhardt, Heiner Zillmer (Mitglieder der Paulo Freire Kooperation Deutschland)
[1] Georg Seeßlen, Nachdenken über Gut und Böse: sind wir die Guten, Opa? In: taz 30.03.2022; https://taz.de/Nachdenken-ueber-Gut-und-Boese/!5841730/
[2] Paulo Freire, Speech by Professor Paulo Freire, Laureate for the UNESCO prize 1986 for peace education in: UNESCO, UNESCO prize 1986 and 1987 for peace education. UNESCO Paris 1988: 1-58
für weitere Diskussionen, z.B.
ZHAO Tingyang: „Alles unter dem Himmel. Vergangenheit und Zukunft der Weltordnung“
Aus dem Chinesischen von Michael Kahn-Ackermann Suhrkamp Verlag, Berlin 2020,266 S.
Ilya Trojanow, Krieg und Pazifismus: Die Friedensziele im Blick behalten. Imperialistische Gelüste und Aufrüstung zielen auf Krieg. Stattdessen sollte die Weltgemeinschaft genährt werden, ein gemeinsames Haus. taz, 12.05.2022,
https://taz.de/Krieg-und-Pazifismus/!5850799/